Sehr geehrte Damen und Herren,
Kein Mensch IST behindert, Menschen werden behindert. Es sind die Umstände, politische Barrieren, Barrieren in den Köpfen, in Gebäuden, in der Sprache und es sind Vorurteile, die Menschen mit körperlichen oder geistigen Besonderheiten von einem selbstbestimmten Leben inmitten der Gesellschaft abhalten. Ja, bei besonderen Bedürfnissen braucht es für solch ein möglichst selbst gestaltetes Leben besondere Hilfe, aber genau diese leisten engagierte Fachkräfte ud Träger seit Jahrzehnten und deshalb möchte ich zunächst meinen herzlichen Dank an ein Hilfesystem richten, das in seiner modernen Ausprägung den Menschen in den Mittelpunkt stellt und an all diejenigen, die beruflich oder als Angehörigen für das gute Leben all der Menschen mit speziellen Bedürfnissen arbeiten.
Das Hilfesystem für Menschen, die behindert werden in Deutschland ist historisch gewachsen. Lnge Jahre geprägt von einem defizitorientierten, paternalistischen Blick, durch düsterste Zeiten, behielten Einrichtungen für diese Menschen lange den “Anstalts-Charakter”, der sich selbstverständlich nicht nur im Namen der Träger, sondern auch in ihrer Haltung gegenüber den Bewohner:innen längst fundiert verändert hat.
Die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland im Jahr 2009 ratifiziert hat verpflichtet uns jedoch, das Ziel der Inklusion in die Gesellschaft politisch und gesetzlich zu verankern.
Und deshalb muss man fachpolitisch feststellen: Um die UN-Behindertenkonvention auch in Sachsen-Anhalt verbindlich umzusetzen, braucht es einen neuen überarbeiteten Landesrahmenvertrag zur Umsetzung des Sozialgesetzbuchs 9, des Sozialgesetzbuchs, das die Unterstützung für Menschen mit besonderen Hilfebedarfen regelt.
Der seit 2019 vorliegende Vertrag hatte von Anfang an nur vorläufigen Charakter. Schließlich wurden in dessen Anlage 15 zahlreiche Übergangsregelungen vereinbart. Angedacht für ein Jahr. Schließlich aber fort und fortgeschrieben bis 2024. Bis das Ministerium die Notbremse zog und den Vertrag einseitig kündigte. Und wie es bei plötzlichen Vollbremsungen ist, das sorgte erstmal für einige Unordnung.
Und diese überraschende Vollbremsung hat erheblichen Schaden angerichtet. Schaden für die Vertrauenskultur. Schaden für eine verlässliche Arbeit der Träger und Einrichtungen. Tiefe Verunsicherung bei den Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen.
Zur Wahrheit gehört auch: Für eine solche Vollbremsung braucht es politischen Mut. Denn die Gegenreden, die öffentlichen Demonstrationen gegen diesen Schritt waren absehbar. Es war nicht der leichte Weg, den Vertrag zu kündigen. Man hätte das auch in dieser Legislatur einfach weiterlaufen lassen können. Da wäre nicht viel medien- und öffentlichkeitswirksames passiert. Die Träger hätten weiter arbeiten können wie gehabt. Routinen hätten weiter für Sicherheit und Erwartbarkeit gesorgt. Das Provisorium der Übergangsregelungen wären peau a peau zum Status quo geworden.
Die Kündigung hat dies aufgebrochen und allen Seiten das Leben – erstmal – schwer gemacht. Und das ist gerechtfertigt, aber nur dann, und das möchte ich an dieser Stelle betonen, wenn wir wirklich sehr zeitnah einen neuen Landesrahmenvertrag vorlicgen haben. Denn es geht um nicht weniger als die Durchsetzung und Umsetzung von basalen Menschenrechten. Aber es geht eben auch um die Verlässlichkeit in Planung und Finanzierung.
Die UN-Behindertenrechtskonvention geht in ihr 17. Jahr. Das Bundesteilhabegesetz ist vor acht Jahren in Kraft getreten. Ziel war es, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und die Eingliederungshilfe als Leistungssystem neu zu ordnen.
Dafür ist die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausgelöst worden. Die Gewährleitung von Teilhabe ist jetzt das erste Ziel, denn Teilhabe ist ein Menschenrecht. Eine Gesellschaft für Alle ist Aufgabe der Politik.
Für die Leistungserbringung heißt das: die Unterstützung von Menschen, die behindert werden hängt nicht mehr von den Angeboten bestimmter Einrichtungen ab, sondern Ausgangspunkt sind die je individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Menschen. Statt Leistungen von der Stange, maßgeschneiderte Angebote.
Für die Organisation der Eingliederungshilfe auf Landesebene, für Träger und Betroffene ergeben sich daraus natürlich erhebliche Veränderungen. Den Menschen mit seinen Bedürfnissen und Wünschen auch bei Konzepten und Abrechnungen in den Mittelpunkt zu stellen statt die Einrichtung, das erfordert für die Träger neue Abrechnungsmodelle und neue Konzepte.
Damit rückt der Lebensmittelpunkt der Person in den Fokus und eine neue Unabhängigkeit von Wohnort und Leistungsart: Es gilt nun der Grundsatz, dass Leistungen überall in Anspruch genommen werden können. Früher war zuerst das Angebot der Einrichtung da, und die Bewohner:innen mussten sich daran orientieren. Heute in Zeiten der Personenzentrierung gilt:
Die Unterstützung wird individuell an den Lebensentwurf und die Ziele der betroffenen Person angepasst. Leistungen werden unabhängig von der Wohnform erbracht. Menschen können frei wählen, ob sie in einer Wohngruppe, alleine oder mit Angehörigen leben möchten. Unterstützung wird nach persönlichen Wünschen gestaltet, beispielsweise durch ambulante Assistenz, die unabhängig von einer Einrichtung organisiert wird.
Dieser Ansatz läuft auch unter dem Begriff der De-Institutionalisierung. Und die ist dringend nötig. Sachsen-Anhalt hat die bundesweit höchste Dichte an stationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und ein vergleichsweise geringes Angebot ambulanter Leistungen. Mit 4,7 von 1.000 volljährigen Einwohnern leben in Sachsen-Anhalt so viele Menschen in besonderen Wohnformen wie nirgens sonst in der Bundesrepublik. Nur knapp 38% der Menschen mit Hilfebedarf werden bei uns ambulant betreut. Viele Westbundesländer erreichen Quoten von weit über 60%. Selbst die anderen Ostländer tendieren in Richtung 50%.
Wir Grünen wollen, dass alle Menschen in Sachsen-Anhalt möglichst selbstbestimmt ihren Wohn- und Lebensraum wählen können. Wir wissen, dass die Träger in Sachsen-Anhalt engagiert auf dem Weg sind, neue Wohn- und Unterstützungsformen zu entwickeln. Genau dafür braucht es mit einem neuen Landesrahmenvertrag sehr zügig einen politischen Rahmen.
Die hohe Quote an besonderen Wohnformen, die niedrige Quote an ambulanten Leistungen in unserem Land ist für alle Beteiligten alles andere als zufriedenstellend.
Wir möchten mit unserem Antrag die Perspektive der Betroffenen und Angehörigen stark machen. Die Träger und Einrichtungen können gut für sich sprechen. Das haben wir ja bei den Demonstrationen und im Ausschuss erlebt. Das ist gut und richtig. Aber in den öffentlichen Debatten und Verhakungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern läuft die Perspektive und die Bedarfe derer um die es eigentlich geht, den Menschen mit Behinderungen, Gefahr, auf der Strecke zu bleiben.
Auch darum die ausdrückliche Aufforderung in unserem Antrag die Selbstvertretungsgremien und den Landesbeauftragten direkt einzubeziehen. Ja, formal sind diese nicht Vertragspartner beim Landesrahmenvertag. Aber in der Konsequenz werden die Menschen mit Behinderung die Folgen des Landesrahmenvertrages unmittelbar in ihrem Lebensalltag erfahren. Im Guten wie auch im schlechten. Der bekannte Satz der Behindertenrechtsbewegung: „Nichts über uns, ohne uns“ gilt auch hier.
Inklusion ist kein Gnadenakt. Inklusion ist keine Utopie. Sondern Menschenrecht und politische Verpflichtung. Und zwar aller Beteiligten. Das – hoffentlich – geteilte Ziel von Land, Trägern und Betroffenen die UN Behindertenrechtskonvention auch hierzulande zumindest an dieser Stelle ernst zu nehmen, sollte die Verhandlungen in den nächsten Wochen ausrichten. Allen Schwierigkeiten und Zerwürfnissen bei einzelnen Fachfragen zum Trotz. Damit dies gelingt und beide Verhandlungspartner sich gleichberechtigt einbringen können, greifen wir den Vorschlag auf die Moderation der Verhandlung in die Hände neutraler Dritter zu legen. Es ist sicherlich hilfreich bei dem aktuellen hohen Maß an Zerwürfnis und negativen gegenseitigen Zuschreibungen hier moderierend einzugreifen. Das ist sicherlich auch der Verbindlichkeit der Absprachen in den Verhandlungen zuträglich, wenn ein allparteilicher Dritter als quasi Zeuge bisheriger Einigungen präsent ist.
In der vorigen Ausschussberatung ist das Ziel genannt worden, den Landesrahmenvertrag im ersten Quartal final zu verhandeln. Auch das greifen wir gerne auf und möchten an alle Beteiligten appellieren: tragen sie das ihre dazu bei Ende März über die Ziellinie zu gehen.
Als Land, als Kostenträger muss dabei klar sein:
- Menschenrechte stehen nicht unter Finanzierungsvorbehalt.
- Der Rotstift kann und darf nicht federführend sein bei Vertragsverhandlungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.
Es mag sein, dass es Effizienzreserven im System gibt. Es mag stimmen, dass eine höhere Flexibilisierung der Leistungen auch Einsparungen mit sich bringen kann. Ich bin nicht überzeugt, dass das der Regelfall ist, aber wo das der Fall ist, bitte gerne. Aber nicht als Primärziel. Nicht als eigentlicher Zweck der ganzen Übung, sondern als dann gern zur Kenntnis genommene Nebenfolge des neuen Landesrahmenvertrages.
Wir als Landtag stehen nur an der Seitenlinie. Den Landesrahmenvertrag verhandeln wir nicht unmittelbar. Aber als klares Bekenntnis zu einer Gesellschaft für Alle, als klares Bekenntnis zur umfänglichen Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention werbe ich um Zustimmung zu unserem Antrag. Damit gerade die Menschen mit Behinderung im Land wissen: wir stehen an ihrer Seite. Ihre selbstbestimmte Teilhabe, ist unser aller Auftrag.
Danke.