Sehr geehrte Damen und Herren,
können Sie sich vorstellen, wie es für ein Kind ist, mit Sprachproblemen in die Schule zu kommen? Von Mitschüler*innen gemobbt zu werden, weil es nicht genauso gut sprechen kann wie die anderen Kinder? Wenn das Kind ständig Enttäuschung erlebt, weil es schlechtere Schulleistungen erbringt als andere Kinder?
Wenn Kinder nicht richtig sprechen lernen, dann wird es in der Schule schwer. Nicht nur, weil jede Abweichung von der Normalität in Schule oft als Grundlage für Mobbing und Ausgrenzung zwischen den Kindern genutzt wird. Sprache ist DIE Grundlage für den Bildungserfolg. Der Unterrichtsstoff wird vor allem über Sprache vermittelt. Ein eingeschränktes Sprachverständnis, das kann von Anfang an zu Wissenslücken und erschwertem Lernen führen. Und letztendlich dann zu schlechteren Noten, einem schlechteren Bildungsabschluss und weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Ich bin selbst Mutter und kann deswegen aus tiefster Überzeugung sagen: Das wünscht sich niemand für sein Kind. Kein Elternteil, keine Familie möchte, dass ihr Kind von Anfang an schlechtere Chancen auf gute Noten, einen guten Schulabschluss und auf dem Arbeitsmarkt hat. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder in der Schule gehänselt werden.
Was ich – als Mutter – was wir Eltern – stattdessen möchten, ist, dass unsere Kinder von Anfang an die bestmöglichen Chancen auf Erfolg haben. Egal, ob es dabei um Erfolg in der Schule, Erfolg im sozialen Leben oder späteren Erfolg in der Arbeitswelt geht.
Und deswegen möchte ich natürlich nicht, dass mein Kind mit Sprachproblemen in die Schule kommt. Aber woher weiß ich überhaupt, ob mein Kind wirklich ein Sprachproblem hat? Woher weiß ich als Elternteil, welchen Wortschatz mein Kind haben sollte? Und vielleicht ist mein Kind auch nur ein Spätzünder und das ganze wächst sich noch raus?
Die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern mit diesen Fragen konfrontiert werden, wird immer größer. Eine Studie der Barmer stellte fest, dass fast 14 Prozent aller Kinder in Sachsen-Anhalt ein Defizit in der Sprachentwicklung haben. Die Techniker-Krankenkasse, berichtet sogar, dass in unserem Land bei mehr als jedem fünften Kind im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung eine Sprachstörung festgestellt wurde.
Das Problem, dass immer mehr Kinder Sprachdefizite haben, ist also da und es ist akut. Was kann man also dagegen tun? Natürlich hilft es, generell die Sprachbildung bei Kindern im Vorschulalter zu stärken und regelhaft in der Kita zu verankern. So wie es das Landesprogramm “Bildung elementar” formuliert und wie es unseren Kitas auch Alltag ist. Aber offensichtlich reicht das allein nicht für alle Kinder aus. Manche Kinder brauchen mehr Hilfe bei der sprachlichen Entwicklung. Manche Kinder brauchen gezielte Sprachförderung. Und manche Kinder brauchen eine Sprachtherapie.
Herauszufinden, welches Kind einen zusätzlichen Bedarf hat, herauszufiltern, welches Kind eine zusätzliche Sprachförderung braucht, um ohne Sprachprobleme in die Schule zu kommen – darum geht es in unserem Antrag.
Das kann man durch eine in – Stand jetzt – 14 von 16 Bundesländern bewährte und erprobte Methode erreichen. In dem man in Sachsen-Anhalt auch eine landesweite und standardisierte Sprachstandserhebung einführt. Also mit einem kindgerechten Testverfahren bei allen Kindern im Alter von etwa viereinhalb Jahren zu überprüfen, ob sie ein Problem beim Spracherwerb haben oder nicht. Durchgeführt von Fachleuten mit der dafür nötigen Expertise. Egal ob das dafür entsprechend ausgebildete Kita-Fachkräfte sind, Logopäd*innen oder Ärzt*innen.
(Übrigens wurde auch in Thüringen jetzt festgelegt, dass eine landesweite Sprachstandserhebung eingeführt wird. Wenn wir also in Sachsen-Anhalt keine haben, wäre das ein Sonderweg, auf dem wir uns befinden.)
Aber natürlich bringt es nichts, einfach nur festzustellen, ob ein Kind zusätzliche Förderung benötigen würde, oder nicht. Konsequenterweise muss eine Sprachstandserhebung Hand-in-Hand damit gehen, dass es für das Kind die zusätzliche Sprachförderung bei einem festgestellten Sprachdefizit auch wirklich gibt. Kindgerecht, praktisch und einfach zugänglich. Zusätzlich zu der Sprachbildung, die die Kinder in den Kitas schon jetzt erhalten. Oder mit Sprachtherapie, wenn DAS notwendig ist. Dafür muss die Berufsgruppe der Logopäd:innen in Sachsen-Anhalt gestärkt werden und in den Fokus. Denn auch hier muss der Zugang leicht sein, wenn er gebraucht wird.
Und natürlich muss bei der Sprachförderung, wie auch bei der Sprachstandserhebung, darauf geachtet werden, dass ALLE Kinder davon erfasst werden. Nicht nur die Kinder, die in die Kita gehen. Denn gerade bei denen, die in keine Kita gehen, bleiben Sprachprobleme oft unerkannt. Und gerade diese Kinder gehören oft ohnehin zu den Risikogruppen, mit einem Sprachdefizit in die Schule zu kommen. Denn oftmals sind es genau die Kinder aus einkommensschwachen Familien, aus Familien, in denen die Eltern arbeitslos sind oder in Familien mit Migrationshintergrund, in denen Kinder aus den verschiedensten Gründen nicht in die Kita gehen. Und genau diese Kinder haben öfter ein Sprachproblem als Kinder aus reicheren Familien, aus Familien, in denen Eltern höhere Bildungsabschlüsse haben.
Und damit verstärken sprachliche Defizite die Bildungsungerechtigkeit in Sachsen-Anhalt. Wenn du in unserem Land aus einer Familie mit geringerem Haushaltseinkommen und geringeren Bildungsabschlüssen kommst, ja dann sind deine Chancen auf einen guten Bildungsabschluss und überhaupt aufs Gymnasium zu kommen, einfach schlechter. Ein guter Bildungsabschluss ist damit für Kinder aus reicheren und gut gebildeten Familien viel wahrscheinlicher als für andere Kinder. Und das ist echt ungerecht. Das ist vor allem auch deswegen ungerecht, weil sich das bis ins spätere Berufsleben durchzieht und man mit einem schlechteren Bildungsabschluss auch schlechtere Chancen hat, einen gut bezahlten Job zu erhalten.
Aufstieg durch Bildung? Theoretisch absolut möglich aber – und da spreche ich aus eigener Lebenserfahrung unfassbar anstrengend und mit Hürden und Widerständen verbunden. In Deutschland zwar ein gern gegebenes Versprechen und bei Wahlen gern plakatiertes Ideal. Spannenderweise meist von denen erzählt, die sich nicht im Ansatz die Realität hinter dieser theoretischen Möglichkeit vorstellen können. In dieser Realität ist Aufstieg durch Bildung oft nur ein Ammenmärchen.
Und die Bildungsungerechtigkeit fängt in Deutschland eben schon im Vorschulalter bei Kindern an. Geht man in eine Kita, oder nicht. Haben Eltern Zeit und Muße, oder auch nur Lust, mit den Kindern viel gemeinsam zu lesen, oder nicht. Haben Eltern überhaupt selbst die sprachlichen Fähigkeiten, mit ihrem Kind in einem ausreichenden Maß zu kommunizieren, dass es selbst gute Sprachfähigkeiten entwickeln kann. Haben Eltern die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, zu erkennen, ob ein Kind eine spezielle Förderung braucht, oder nicht. So viel – viel zu viel – hängt vom Elternhaus ab.
Deswegen brauchen wir nicht nur Bildung von Anfang an – sondern auch mehr BildungsCHANCEN, mehr BildungsGERECHTIGKEIT von Anfang an. Damit jedes Kind die Chance auf den bestmöglichen Bildungserfolg hat. Egal, ob es aus einer reichen oder einer armen Familie kommt.
Und wir in der Politik haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass es mehr Bildungsgerechtigkeit gibt. Ein Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit kann die Einführung einer landesweiten Sprachstandserhebung in Sachsen-Anhalt sein. Mit anschließender zusätzlicher sprachlicher Förderung. Gezielt und genau da, wo es notwendig ist.
Und ja, ich gebs zu, ich bin keine Fachexpertin im Bereich sprachlicher Bildung bei Kindern im Vorschulalter. Und ich lehn mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass niemand hier im Plenum Expertin oder Experte genau in dem Bereich ist. Doch es gibt sie, die Fachexpert*innen für genau den Bereich. Und genau deswegen legen wir Bündnisgrüne in unserem Antrag nicht fest, wie ein Sprachförderkonzept inklusive einer Sprachstandserhebung exakt aussehen soll.
Denn wir haben im Vorfeld unseres Antrags mit Expert*innen in diesem Bereich gesprochen und festgestellt: es gibt viele mögliche Wege so etwas umzusetzen. Man könnte es im Rahmen der Grundschuleingangsuntersuchung machen – dafür muss die dann aber auch wirklich immer im Alter von viereinhalb Jahren stattfinden, damit bis zur Einschulung noch genügend Zeit für gezielte Förderung VOR dem Schuleintritt ist – das ist momentan viel zu oft nicht der Fall, sondern erst viel später. Oder man schult zum Beispiel die Kitafachkräfte entsprechend und beauftragt sie die Sprachstandserhebung durchführen – sie kennen ihre Kitakinder ja oft am besten. Auch die Nutzung der ohnehin ja dokumentierten Entwicklungsbeobachtung in den Kitas innerhalb eines stufigen Verfahrens als erste genaue Betrachtung der Sprachstandsentwicklung wäre denkbar.
Wir als Politik legen die Zielrichtung fest, das ist unsere Aufgabe. Wir wollen, dass Kinder eine Sprachstandserhebung durchlaufen und dann bei Bedarf gezielte Sprachförderung erhalten, damit kein Kind mehr mit Sprachproblemen in die Schule kommt. Und dann lassen wir Fachexpert*innen ein neues Sprachförderkonzept für Sachsen-Anhalt entwickeln: kindsgerecht und bedarfsdeckend. Fachexpert*innen wie Logopäd*innen, Ärzt*innen, Kitafachkräfte, Grundschulpersonal und Wissenschaftler*innen, die wirklich Ahnung von dem Thema haben.
Wir Bündnisgrüne haben hier im Landtag, im letzten Dezember, ein Fachgespräch zum Thema Sprachförderung durchgeführt, ich erwähnte das schon. Mit Fachexpert*innen, mit Praktiker*innen und mit Wissenschaftler*innen. Und daraus ist nicht nur dieser Antrag entstanden. Dort wurde uns von mehreren Seiten berichtet, dass es Kommunikationsprobleme gibt. Informationen über den Sprachstand der Kinder werden oftmals zwischen Kita und Grundschule nicht ausgetauscht.
Aber es gab insbesondere bei den Praktiker*innen den begründeten Eindruck, dass auch auf ministerieller Ebene die Kommunikation zwischen dem Sozialministerium und dem Bildungsministerium nicht besonders gut läuft. Ich will hier gar nicht die Schuldfrage stellen. Aber das darf gerade bei dem Thema Sprachförderung für Kinder nicht so weiterlaufen. Sprachförderung muss in der Kita beginnen und in der Schule fortgeführt werden. Um das ordentlich zu koordinieren, dafür braucht es eine Arbeitsgruppe bestehend aus dem Sozialministerium, in dem die Kitas angesiedelt sind, und dem Bildungsministerium, in dem die Schulbildung organisiert wird. Nur wenn auch auf ministerieller Ebene der Informationsaustausch stimmt, kann die Kommunikation zwischen Kitas und Schulen von Grund auf verbessert werden.
Wenn wir in Sachsen-Anhalt ein Problem feststellen, lohnt sich oft der Blick in andere Bundesländer und was es da so für Problemlösungen gibt. Bei der Sprachförderung lohnt sich zum Beispiel der Blick nach Sachsen. Dort gibt es Zentren für sprachliche Bildung. In ihnen werden nicht nur die Fort- und Weiterbildungen für Kita- und Grundschulfachkräfte organisiert, damit diese beim Umgang und beim Erkennen von Sprachproblemen von Kindern geschult werden. In ihnen werden insbesondere auch Beratungsleistungen angeboten. Für Kita- und Grundschulfachkräfte, aber eben auch für Eltern. Denn wir Eltern wissen, wie unsicher man sich in manchen Situationen bei den Kindern fühlen kann. Wie oft man nicht weiß, wo man am besten anfängt, wie man Hilfe bekommen kann. Beim Thema Sprachprobleme sind Zentren für sprachliche Bildung genau da ein Anlaufpunkt. Deswegen fordern wir Bündnisgrüne, dass in Sachsen-Anhalt, wie in Sachsen, Zentren für sprachliche Bildung eingerichtet werden.
Und um den Elefanten im Raum anzusprechen: Ja es gab in Sachsen-Anhalt schon einmal eine Sprachstandserhebung. Und die wurde 2013 aus guten Gründen eingestellt. Auch wir Bündnisgrünen waren damals dafür. Aus gutem Grund. Denn das damalige Verfahren – so berichteten uns damals involvierte – war schlecht gemacht. Es war nicht orientiert am Kind. Und vor allem wurden die Kitafachkräfte nicht entsprechend geschult und darauf vorbereitet, um eine gute Sprachstandserhebung umsetzen zu können. Aber nur weil das Instrument damals nicht gut funktioniert hat, heißt das nicht, dass eine Sprachstandserhebung nicht notwendig ist. Dann muss einfach ein besseres Verfahren entwickelt werden. So, wie es die anderen Bundesländer tun.
Andere Bundesländer führen erfolgreich eine Sprachstandserhebung mit anschließender Sprachförderung durch. Und es hilft. In Studien zur Bildungsgerechtigkeit oft genanntes Positivbeispiel ist da Hamburg. Die eine Sprachstandserhebung mit anschließender Sprachförderung eingeführt haben, welche regelmäßig wissenschaftlich evaluiert und überarbeitet wird. Mit einer gezielten und zusätzlichen Sprachförderung für Kinder mit Sprachproblemen, die nicht mit Austritt aus der Kita endet, sondern die nahtlos in der Grundschule weitergeführt wird. Bei der in regelmäßigen Abständen bei den Kindern überprüft wird, wie die Sprachentwicklung voranschreitet und ob Anpassungen notwendig sind. Genau so etwas oder etwas ähnliches kann ich mir auch für Sachsen-Anhalt vorstellen.
Wir Bündnisgrüne kämpfen dafür, dass kein Kind mit Sprachproblemen in die Schule kommt. Deswegen braucht es eine landesweite Sprachstandserhebung für alle Kinder im Alter von viereinhalb Jahren und bei festgestellten Defiziten eine verpflichtende Sprachförderung. So schafft man mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung, und zwar von Anfang an. Damit Aufstieg durch Bildung nicht mehr nur ein Wahlversprechen ist, sondern öfter wirklich Realität sein kann.
Wir bitten um Zustimmung zum bündnisgrünen Antrag. Vielen Dank.