Rede zur Aussetzung der Präsenzpflicht: Lassen Sie die Familien entscheiden!

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Sehr geehrte Damen und Herren,

In Berlin hat die zuständige Bildungssenatorin am Montag die Präsenzpflicht an den Schulen – bei Beibehaltung des Präsenzunterrichts als Regelunterricht – temporär bis Ende Februar ausgesetzt. In der Begründung der Senatsverwaltung wird ausgeführt, dass besonders die steigenden Infektionszahlen unter Schülerinnen und Schülern und das geänderte Quarantänemanagement für Schulkinder zu dieser Entscheidung geführt haben. Neben dem dringenden Anliegen, normalen Schulunterricht in Präsenz anzubieten und Schulen – anders als in der ersten Pandemiewelle – offen zu halten, nehme man auch die Sorgen und Anliegen derjenigen Familien ernst, die den Infektionsschutz an den Schulen für nicht ausreichend halten und ihre Kinder zu Hause betreuen möchten. Berlin kündigt an, dass die Schulen den entsprechenden Schüler*innen Lernangebote unterbreiten werden.

Nun hat uns in Sachsen-Anhalt die aktuelle Omikron-Welle der Pandemie zum Glück noch nicht voll erwischt, aber sonst unterscheidet uns an dieser Stelle wenig von Berlin. Auch hier werden Schülerinnen und Schüler einer Klasse nicht mehr als Kontaktpersonen in Quarantäne geschickt, wenn es einen Infektionsfall im Raum gab. Auch hier sorgen sich viele Eltern und Familien, nicht nur aus Familien mit erhöhtem Infektionsrisiko, dass dieser Strategiewechsel unweigerlich zur Durchseuchung an den Schulen führen kann, denn die Infektionsschutzmaßnahmen an unseren Schulen reichen bei weitem nicht aus, um das bei einer hochansteckenden Variante wie Omikron zu verhindern. Und auch hierzulande sind viele Eltern nicht bereit dazu, ihre Kinder, und Schüler*innen sich selbst dem auszusetzen und verstehen nicht, warum sie dazu gezwungen werden sollen.

Der Unterschied ist: hierzulande ist das Bildungsministerium nicht bereit, diese Familien und Schüler*innen ernst zu nehmen. In einem Bundesland, in dem immer wieder betont wird, man müsse die Sorgen und Ängste der Bürger*innen anhören und ernst nehmen, gilt das ganz offensichtlich nicht für die Sorgen derjenigen, die in einer Pandemie sinnvollerweise auf Vorsicht setzen. Nicht für diejenigen, die Durchseuchung für den falschen Weg halten. Nicht für diejenigen, die ihre Kinder suffizient vor Ansteckung schützen wollen. Und nicht für die besondere Situation von so genannten Schattenfamilien. Das sind Haushalte, in denen eine oder mehrere Personen leben, die ein hohes Risiko für einen schweren Coronaverlauf haben. Seit Beginn der Pandemie sind genau diese Familien gezwungen, in völliger Isolation zu leben. Ihre Sorgen werden meistens ignoriert oder nicht gehört. Sie werden mit diesem Lebensumstand komplett im Stich gelassen. Und in Sachsen-Anhalt zusätzlich gezwungen, ihre Kinder täglich in die Schule zu schicken. 

Schüler*innen, nicht nur aus diesen Familien müssen in Sachsen-Anhalt jeden Morgen mit der Angst vor einer Infektion zur Schule gehen. Sie machen sich Gedanken darum, ob sie das Virus in ihre Familie tragen und gegebenenfalls ihre Geschwister, Eltern oder sogar ihre Großeltern anstecken. Man kann sich kaum vorstellen, wie hoch der emotionale Druck dadurch für die jungen Menschen in unserem Bundesland ist.

Der Ausweg, den die Ministerin für diese Familien im letzten Bildungsausschuss skizzierte, die Krankschreibung der Kinder durch den Hausarzt, sollte wohl besser nicht als Handlungsaufforderung verstanden werden, wenn ein Kind nicht wirklich krank ist und es oft vor allem um den Schutz von Familienangehörigen geht.

Es ist wichtig und legitim, sich mit den Ängsten von Eltern zu befassen, die Schäden durch das Maskentragen befürchten oder das tägliche Testen als Gefahr für die physische oder psychische Gesundheit betrachten, auch dann wenn man diese Ängste für unbegründet halten kann. Aber mindestens genauso wichtig ist in einer weltweiten Pandemie – erst recht in ihrer bisher höchsten Welle – das Gehör für diejenigen, die zur Vorsicht mahnen oder das Recht auf Vorsicht für sich selbst und ihre Kinder einfordern.

Das tun im Übrigen ja nicht nur viele Familien im Land und wir, auch der Landesschülerrat und der Landeselternrat vertreten diese Position. Nehmen Sie auch diese Interessenvertreter*innen bitte endlich ernst!

Die Gründe, die für ein Beibehalten des Präsenzunterrichts sprechen sind gewichtig. Wir alle haben erlebt, dass Schulschließungen zu einer Vergrößerung von Bildungsungleichheit geführt haben. Dass Schüler*innen und Schüler nicht mehr mitkamen. Und wir wenden jetzt viel Geld und Energie auf, um Lernrückstände zu beseitigen – übrigens nicht nur wir als Land, sondern auch viele von uns – als Eltern. Wir haben erlebt, dass es zu sozialer und seelischer Belastung geführt hat, als der Lebensort Schule wegfiel, der Begegnungsort, der Ausprobierort. Und es wird lange dauern, die Schäden, die dadurch entstanden sind, auch nur vollständig zu erfassen. Deshalb ist die Nichtteilnahme am Unterricht und die Auslagerung der Entscheidung darüber in die Elternhäuser eine schlechte Lösung. Aber wir befinden uns in einer Pandemie für uns bisher ungekannter Dimension. Im Moment gibt es nur schlechte Lösungen. Und von allen schlechten Lösungen ist es die am wenigsten Schlechte, wenn Familien zumindest ihre Verantwortung für den Gesundheitsschutz ihrer Kinder selbst abwägen und entscheiden können.

Dass für viele Familien Schulen eben nicht als pandemiesicherer Ort erscheinen, liegt einerseits an den offensichtlichen, und im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sehr deutlich höheren Infektionszahlen bei Schülerinnen und Schülern, andererseits an dem Erleben, dass Infektionsschutz an Schulen in Sachsen-Anhalt keine große Priorität zu haben scheint. Der stellt sich eher als Drama beziehungsweise eine Tragödie in drei Akten dar:

Akt eins: Die Voraussetzung der Tragödie. Hierin gab es ein Luftfilterförderprogramm, welches eher schlecht als recht lief. Die erste große Hürde für das Bildungsministerium war dabei gleich zu Beginn die Feststellung der Anzahl an Klassenräumen, die dringend Luftfilter benötigen. Zwar hätte man in den Sommerferien sechs Wochen Zeit gehabt dies zu tun, aber stattdessen wurde – warum auch immer – den Schulstart zur Erfassung abgewartet. Wahrscheinlich gab es ganz praktische Überlegungen – aber diese hatten dann offenbar Priorität vor dem Infektionsschutz. Dadurch hat es ewig gedauert, bis das Förderprogramm überhaupt aufs Gleis gesetzt wurde und Schulen Mittel beantragen konnten. Jetzt ist es schon seit einigen Monaten da, trotzdem sind viele Schulen in Sachsen-Anhalt bis heute noch nicht mit Luftfiltern ausgestattet.

Für unsere Bildungsministerin ist das auch kein besonders wichtiges Problem, wenn man Ihren Worten im letzten Bildungsausschuss Glauben schenken mag. Dort betonten Sie, dass es Ihrer Ansicht nach, keinen Unterschied für das Infektionsrisiko in Klassenräumen macht, ob diese mit Luftfiltern ausgestattet wurden oder nicht. Ihre „Erfolgsstrategie“ stattdessen: Lüften. Lüften ist grundsätzlich eine gute Strategie für den Infektionsschutz, aber ich glaube man braucht kein großes Einfühlungsvermögen, um zu verstehen, dass ständiges Lüften – und für effektives Lüften ist eine Durchzugssituation notwendig – in den Wintermonaten für unsere Kinder eine große Zumutung bedeutet. Wie würde es Ihnen denn gefallen, wenn Sie die ganze Zeit bei offenem Fenster im Winter arbeiten müssten, liebe Kolleg*innen, Frau Feußner?  

Aber das insuffiziente Pandemiemanagement Ihres Bildungsministeriums endet nicht bei den fehlenden Luftfiltern. Es begann der zweite Akt der Tragödie – Der Höhepunkt: Das ewige Ringen um die Aussetzung der Präsenzpflicht in den Schulen vor den letzten Weihnachtsferien. Obwohl es in der damaligen 15. Eindämmungsverordnung hieß: „An allen Schulen findet der Präsenzunterricht unter Befreiung von der Präsenzpflicht statt“, schränkte das Bildungsministerium per Erlass durch einen Schulleiterbrief diese Regelung ein. Eltern sollten das Wegbleiben ihrer Kinder schriftlich „nachvollziehbar durch Belange des Infektionsschutzes“ begründen. Manche Schulen waren von der Formulierung im Schulleiterbrief so sehr verunsichert, dass sie ein ärztliches Attest für das Fernbleiben vom Unterricht verlangten.

Dass die Handlungen des Bildungsministeriums dabei der Eindämmungsverordnung widersprachen und somit rechtswidrig waren, bestätigte dann sogar der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst in seinem Gutachten.  Doch selbst dieses Gutachten hat Sie, Frau Feußner, nicht zur Einsicht gebracht. Lediglich die Eingrenzung, dass die Befreiung der Kinder durch „Belange des Infektionsschutzes“ begründet sein musste, wurde auf der Ministeriums-Webseite gestrichen. Ein entsprechender Hinweis an Schulen und Eltern zur tatsächlichen Verordnungslage blieb aus. Die mangelnde Einsicht im Ministerium zeigt sich auch jetzt, nach den Weihnachtsferien. Ihre Entscheidung zur Wiedereinführung der Präsenzpflicht, ohne dass sich die Pandemielage inzwischen nachvollziehbar verbessert hätte, eher steht mit der hoch ansteckenden Omikron-Variante eine deutliche Erhöhung der Infektionszahlen bevor, ist grob fahrlässig.

Und das führt uns zum letzten Akt dieser Tragödie. Der Katastrophe. Denn die Entscheidung zur Wiedereinführung der Präsenzpflicht an unseren Schulen lässt vor allem eines vermuten: Die Durchseuchung ist das übergeordnete Ziel des Bildungsministeriums. Anders lässt es sich nicht erklären, dass man trotz rasant ansteigender Infektionszahlen, alle Schülerinnen und Schüler wieder zurück in den Präsenzunterricht zwingt, ohne ihnen und ihren Familien die Entscheidung zur Risikoabschätzung zu überlassen.

Die nun für die Schulen mögliche Änderung von Beschulungsformen bei erhöhtem Pandemiegeschehen ändert im Grunde wenig. Vor allem, da diese Änderungen ausschließlich auf die physische Abwesenheit von Lehrer*innen und Schüler*innen reagieren sollen. Also einfach auf Störungen im Betriebsablauf. Kein Anhalt mehr für Infektionsprävention und bis zu diesem Punkt – und die vom Bildungsministerium vorgeschlagenen Anhaltswerte lassen dann jeweils auf eine konkrete starke Durchseuchung an der jeweiligen Schule schließen – auch keine Ausnahme bei der Präsenzpflicht.

Mit unserem Antrag, Frau Bildungsministerin Feußner, möchten wir Grünen auf Sie zukommen. Wir zeigen Ihnen einen Ausweg auf, um die Katastrophe zu verhindern und doch noch ein gutes oder wenigstens weniger schlechtes Ende für das Drama zu finden. Der erste und wichtigste Schritt dafür ist, bis mindestens zu den Winterferien die Präsenzpflicht an den Schulen Sachsen-Anhalts wieder auszusetzen. In den Winterferien sollte dann die Coronasituation in den Schulen Sachsen-Anhalts neu bewertet und die Entscheidungen frühzeitig an die Schulen kommuniziert werden, damit diese genug Zeit haben sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Ein Aussetzen der Präsenzpflicht, das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen, bedeutet ja kein Aussetzen der Schulpflicht – das wäre ja absurd – und muss auch nicht das Wegbrechen des Kontaktes zur Schule bedeuten. Stattdessen müssen Konzepte entwickelt werden, die die Einhaltung der Schulpflicht auch ohne physische Präsenzpflicht ermöglichen. Und Schulen sind dazu in der Lage. Wir fangen ja nicht bei null an. Wir, vor Allem die Schulen, die Lehrer*innen, Schüler*innen und die Familien haben ja während der Schulschließungen Erfahrungen gemacht, was funktionieren kann. Darauf können wir aufbauen.

Und es gibt auch Fachleute und Praktiker*innen, die solche Konzepte entwickelt und öffentlich gemacht haben, zum Beispiel das „Konzept zur Sicherstellung des Schulbetriebs unter Pandemiebedingungen“, welches von einem interdisziplinären bundesweiten Zusammenschluss von Expertinnen und Experten erstellt wurde. Es beschreibt eine Möglichkeit, wie man pandemiesicheren Hybrid-Unterricht anbieten kann, ohne Schulkinder zu vernachlässigen, oder Lehrkräfte, anderes Schulpersonal sowie Eltern zu belasten.

Dieses Konzept wurde an alle Bildungsministerien bundesweit verschickt. Frau Feußner, Sie haben im Bildungsausschuss bestätigt, dass es auch in Sachsen-Anhalt eingegangen ist. Wie Sie mit dem Konzept umgehen, ob sie es als Anregung für eigene Planungen im Umgang mit Corona in Schulen nutzen, das möchte ich mir nicht anmaßen, Ihnen vorzuschreiben. Ganz sicher lassen sich Dinge aus der Theorie nicht eins zu eins in die Realität – und erst recht nicht in die Realität in Sachsen-Anhalt übertragen.

Aber die dahinterliegende Idee, in einer Ausnahmesituation wie der Pandemie fachübergreifend ALLE Herausforderungen zu betrachten – das Recht auf Bildung, die Schulpflicht und den Gesundheitsschutz – und dafür Lösungen zu entwickeln, die halte ich für einen notwendigen Ansatz.

Natürlich wird es auch bei Aussetzung der Präsenzpflicht weiterhin Schülerinnen und Schüler geben, die am Präsenzunterricht teilnehmen werden. Das wird nach wie vor das Regelmodell sein, darüber streiten wir gar nicht.  Auch diese Schülerinnen und Schüler benötigen den bestmöglichen Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus. Deswegen ist es essenziell, dass in Sachsen-Anhalt unverzüglich die S3-Leitlinie für „Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen“ konsequent umgesetzt wird. Gleichzeitig bleibt das Testregime elementar, um das Infektionsgeschehen an den Schulen im Blick behalten zu können. Solange wir in Sachsen-Anhalt Laborkapazitäten dafür haben, sollten wegen der höheren Zuverlässigkeit – besonders bei der vorherrschenden Omikron-Variante – auch regelmäßige PCR-Pooltestungen stattfinden.

Und auch wenn es nicht Teil dieses Antrags ist: Wir dürfen die Situation der Kitakinder und ihrer Familien nicht vergessen, wo der Infektionsschutz ähnlich schwierig ist, wie in den Schulen. Hier wäre eine behördliche Empfehlung sinnvoll, die vom Besuch der Kita abrät. Nur so haben Eltern auch bei hohem Infektionsgeschehen den Anspruch auf dienstliche Freistellung und den Bezug von Kinderkrankengeld, um die Kleinsten zuhause zu betreuen, ohne dass diese sich dem Risiko einer Coronainfektion aussetzen müssen. Doch mit diesem Thema werden wir uns sicher im nächsten Sozialausschuss beschäftigen.

Zum Abschluss möchte ich an dieser Stelle klar und deutlich betonen: Wir Grüne wollen Bildung – Aber sicher! Lassen Sie uns gemeinsam den Familien und insbesondere den Schülerinnen und Schülern die Entscheidungsgewalt über ihre eigene Gesundheit zurückgeben. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass Schülerinnen und Schüler in Sachsen-Anhalt bestmöglich vor einer Infektion mit dem Coronavirus geschützt werden.  Verstehen wir Familien, die diese Verantwortung selbst übernehmen wollen als Partner*innen und sorgen wir gemeinsam dafür, dass Unterricht für alle möglich bleibt, und zwar so pandemiesicher, wie es geht. Deswegen: Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu.

Vielen Dank.