Rede

Inklusive Bildung an Sachsen-Anhalts Schulen stärken

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Sehr geehrte Damen und Herren,

Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in Sachsen-Anhalt benachteiligt. Kinder mit Behinderungen werden diskriminiert. Und die Landesregierung? Die tut nichts dagegen. Das muss man hier so klipp und klar feststellen. 

Doch bevor ich weiter darauf eingehe, möchte ich zunächst einen kleinen Blick in die Vergangenheit geben. Im Jahr 2009 ist in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten. Diese Konvention beschreibt ausführlich, welche Regeln eingehalten werden sollen, damit Menschen mit Behinderungen genauso an der Gesellschaft und am Leben teilhaben können, wie Menschen ohne Behinderungen. 

In Artikel 24 dieser Konvention geht es um das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung. Ich zitiere: „Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen […]“. 

Sachsen-Anhalt ist als Bundesland der Bundesrepublik Deutschland der Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Sachsen-Anhalt ist verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Doch stattdessen haben wir hier in Sachsen-Anhalt das Gegenteil. Während immer mehr Kinder bei uns in Sachsen-Anhalt exklusiv in Förderschulen beschult werden, sinken parallel die Angebote des inklusiven, des gemeinsamen Unterrichts in Regelschulen. Das ist ein Trend, der sich die letzten 10 Jahre immer weiter verfestigt hat und der sich so auch fortsetzen wird, wenn wir daran nichts ändern.

Und das obwohl selbst im Schulgesetz unseres Bundeslandes steht: „Inklusive Bildungsangebote für Schülerinnen und Schüler werden in allen Schulformen gefördert, um auf diese Weise zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit beizutragen.“ Ein Anspruch, der in Sachsen-Anhalt definitiv nicht mit Leben gefüllt wird. 

Und ja, nicht nur Sachsen-Anhalt hat ein exklusives Schulsystem. Das ist ein bundesweites Problem. Der letzte Bericht des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen untersuchte auch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Und der Bericht zeigt sehr eindrücklich, dass wir in Deutschland in vielen Bereichen, aber insbesondere beim Einhalten des Rechts von Menschen mit Behinderung auf Bildung versagen! Ich zitiere aus dem Bericht:

„In Deutschland herrscht in der Politik und auch in weiten Teilen der Gesellschaft ein verfehltes Inklusionsverständnis. So wird die Mehrheit der Kinder mit Behinderungen weiterhin nicht inklusiv beschult und wächst ohne schulischen Kontakt zu nichtbehinderten Kindern auf. Das Ziel einer inklusiven Gesellschaft ist so nicht zu erfüllen. Die Landesregierungen müssen ihre menschenrechtliche Umsetzungspflicht gezielter und engagierter wahrnehmen.“

Der Begriff „verfehltes Inklusionsverständnis“ wird in dem Bericht auch näher erläutert. Geschrieben wird dort unmissverständlich, dass die in Deutschland weit verbreitete Annahme, dass die Beschulung von Menschen mit sonderpädagogischen Förderbedarf in Förderschulen ausreichen würde, um das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderung zu erfüllen, falsch ist. Und dass das gerade von CDU-Politiker*innen und auch insbesondere von Bildungsministerin Feußner gerne und häufig vorgetragene  Argument, dass das Elternwahlrecht die Existenz des Förderschulsystems rechtfertigen würde, falsch ist. Herr Staatssekretär Böhm hat erst kürzlich im Bildungsausschuss erklärt, dass er der Meinung sei, dass die UN-Behindertenrechtskonvention nicht zur Abschaffung des Förderschulsystems verpflichte. Auch das ist falsch. Die Vereinten Nationen selbst schreiben in ihrem Bericht, dass die Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention eben genau so zu interpretieren ist. 

Förderschulen sind NICHT Teil eines inklusiven Schulsystems. Förderschulen erfüllen NICHT das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe und das gleichberechtigte Recht auf Bildung von Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. In einem wahren inklusiven Schulsystem – einem inklusiven Schulsystem, dem Deutschland nach Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention genau so verpflichtet ist – würden Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden. In einer Schule. In diesem inklusiven Bildungssystem hätten Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf alle eine Chance auf das Erreichen eines Schulabschlusses.

Ja, die Exklusion im Bildungssystem ist ein bundesweites Problem. Kein Bundesland bekleckert sich da besonders mit Ruhm. Außer im Saarland, in Hamburg und in Bremen gibt es nirgendwo einen Rechtsanspruch auf eine inklusive Beschulung und angemessene Vorkehrungen. Stattdessen werden Ressourcenvorbehalte festgeschrieben und das erwähnte Elternwahlrecht wird als Grund vorgeschoben, um Kinder von Regelschulen in Förderschulen auszusortieren. Aber wie so oft führt Sachsen-Anhalt die Negativspitze an. Kein anderes Bundesland schickt so viele Kinder an die Förderschule wie Sachsen-Anhalt. Und dafür sollte die Landesregierung sich schämen. 

Denn solch ein exklusives Bildungssystem hat schwerwiegende Folgen für den Lebensverlauf von Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Durch das Abschieben der Kinder in den Sonderraum Förderschule erleben die Kinder schon zu Beginn ihrer Bildungskarriere soziale Isolation. Denn für Kinder ist der wichtigste soziale Raum die Schule. Wie und wo sollen betroffene Kinder Kontakt zu gleichaltrigen Kindern ohne sozialpädagogischen Förderbedarf haben, wenn sie aus dem sozialen Raum der Regelschule ausgeschlossen werden? Wie und wo soll ein Bewusstsein dafür entstehen, dass auch ein Förderbedarf nur eine Facette einer vielfältigen, sehr unterschiedlichen und in all ihrer Unterschiedlichkeit zusammengehörigen Gesellschaft ist, dass jeder einfach nur anders normal ist, wenn Kinder schon so früh in Extra-Räume geschickt werden? Alle Kinder – mit oder ohne Förderbedarf verpassen dadurch wichtige Gelegenheiten zum sozialen Lernen und zum Bilden von Freundschaften. 

Und leider entspricht es auch der Wahrheit, dass in unserer Gesellschaft Menschen, die eine Förderschule besuchen oder besucht haben, Stigmatisierung und Diffamierungen erleben. Eine normale Kindheit und normales Aufwachsen sind so schwer möglich. Und nicht zuletzt verhindert der Besuch einer Förderschule die Chance auf gleichberechtigte Bildungschancen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. An vielen Förderschulen war bislang nicht einmal das Erreichen eines Schulabschlusses die Regel. Und in der Regel arbeiten die meisten Menschen, die eine Förderschule besucht haben, später in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen, ohne eine Chance auf einen Ausbildungsplatz oder gar eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Und um den potenziellen Zwischenrufen zuvorzukommen: Ja, es ist positiv, dass in Sachsen-Anhalt an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen jetzt die Möglichkeit geschaffen wird, in einigen Klassen einen Hauptschulabschluss erreichen zu können. Aber Frau Feußner, es ist ehrlich gesagt das mindeste, was Sie tun können. Denn wenn man schon so viele Kinder aus der Grundschule an diese Förderschulart schickt, dann muss man dann dort wenigstens ermöglichen, dass diese Kinder einen Schulabschluss erreichen können. 

Aber immer, wenn es eine erfreuliche Nachricht aus dem Bildungsministerium gibt, dann braucht man nicht lange warten, bis uns die nächste Hiobsbotschaft erreicht. Kinder direkt in die Förderschule einzuschulen, schreddert dann auch noch das kleine bisschen Inklusion, was es für alle Förderschüler*innen in Sachsen-Anhalt gibt: Die gemeinsame Schuleingangsphase in der Grundschule für alle Kinder. Und das wollen sie jetzt auch noch aushöhlen, indem sie ermöglichen, dass Kinder regelhaft in die Förderschule eingeschult werden können. Sie berauben damit die Kinder jeglicher Chance, Regelschule zu erleben und sie verringern die Chancen, inklusive Schullaufbahnen zu beginnen.

Wir Bündnisgrüne kämpfen für ein chancengerechtes Bildungssystem. Wir kämpfen für eine Schule, in der alle Schüler*innen die für sie bestmöglichen Chancen auf Bildung und das Erreichen eines Bildungsabschlusses haben. Wir kämpfen für eine Schule, in der alle Schüler*innen sich wohlfühlen können. In der alle Schüler*innen einen sicheren Ort zum gemeinsamen Lernen haben und dadurch gute Leistungen erbringen können. Wir kämpfen für eine Schule, die alle Kinder so gut wie möglich auf das Leben in unserer demokratischen und vielfältigen Gesellschaft vorbereitet. Wir kämpfen für die Schule für alle.

Und zu dieser Idee von Schule gehört ein inklusives Schulsystem. Ein Schulsystem, in dem es selbstverständlich ist, dass Kinder mit und ohne Behinderung, Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, gemeinsam unterrichtet werden. Eine Schule gemeinsam besuchen. Gemeinsam Lernen. Sich gemeinsam weiterentwickeln.

Mit unserem Antrag wollen wir Voraussetzungen schaffen, um ein solches inklusives Schulsystem zu erreichen. Wir stehen noch ganz am Anfang bei der Reform unseres exklusiven Bildungssystems hin zu einem inklusiven Bildungssystem. Deswegen sind Gutachten und Machbarkeitsstudien notwendig, die wissenschaftlich die Weiterentwicklung unseres Schulwesens hin zu mehr Inklusion begleiten. 

Unser Bildungssystem kann nicht von heute auf morgen inklusiv werden, das ist mir bewusst. Die meisten unserer Schulen sind derzeit weder baulich noch personell auf gemeinsamen Unterricht vorbereitet. Aber das lässt sich ändern. 

Bei Schulneu- und Schulumbauten können wir dafür sorgen, dass es Pflicht ist, dass diese barrierearm ausgebaut werden. Lehrkräfte können durch Fort- und Weiterbildungen für Inklusion fit gemacht werden. Und bereits bei der Ausbildung von Lehrkräften kann das Fördern von Inklusion eine stärkere Rolle spielen, indem sonderpädagogische Module für alle Lehramtsstudierenden verpflichtend werden.

Es wäre schon ein massiver Fortschritt, wenn das Lehramtsstudium für Grundschulen hin zu einem Primärstufenlehramt reformiert wird. Primärstufenlehramt bedeutet, dass das Grundschullehramt mit dem Lehramt für Sonderpädagogik zusammengefasst wird. So würden zumindest an Grundschulen schnell die personellen Möglichkeiten für eine bessere Inklusion geschaffen werden. Und das Beste: An der Martin-Luther-Universität in Halle gibt es bereits ein ausgearbeitetes Konzept, wie ein solches Primärstufenlehramt gestaltet werden kann. Es fehlt hier nur noch das „Go“ der Landesregierung. Dazu möchte ich Sie, Frau Feußner und Herr Wissenschaftsminister Willingmann, an dieser Stelle ganz klar ermutigen. Trauen Sie sich und lassen Sie es zu, dass die MLU ihre fundierten Konzepte zur Reform des Grundschullehramts umsetzt! 

Aber weil es eben zur Wahrheit gehört, dass das derzeitige exkludierende Förderschulsystem nicht von heute auf morgen zu einem inklusiven Bildungssystem weiterentwickelt werden kann, müssen jetzt kurzfristige Maßnahmen ergriffen werden, die das Schulwesen für die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf verbessern, die gerade Teil des Systems sind. 

Teilleistungszeugnisse für Kinder, welche im Förderschwerpunkt Lernen beschult werden, können dafür sorgen, dass niemand diese Schulform ohne eine Art von Abschlusszeugnis verlässt. Auch dann, wenn diese Kinder nicht Teil von Kooperationsklassen sind, die zum Hauptschulabschluss führen. Das würde es diesen Kindern und Jugendlichen erleichtern, sich später auf Ausbildungsplätze zu bewerben anstatt wie jetzt, hauptsächlich in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen eine Anstellung zu finden. 

Gleichzeitig sollte die Autismus-Spektrum-Störung endlich als Förderschwerpunkt in die „Verordnung über die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsbedarf“ aufgenommen werden, damit Kinder und Jugendliche mit entsprechenden besonderen Bedürfnissen entsprechend gefördert werden können.

Und mit der Ausschreibung eines Inklusions-Preises für Regelschulen können diese schon jetzt angeregt werden, Schulkonzepte mit gemeinsamem Unterricht zu entwickeln, Vorreiter und Leuchttürme können als Vorbilder dienen. Und natürlich sollen  die Schulen dabei fachlich unterstützt werden, damit sie im Rahmen ihrer Schulprogrammarbeit eigene inklusive Schulkonzepte entwickeln können.

Ja, wir können nicht von heute auf morgen ein inklusives Schulsystem in Sachsen-Anhalt entwickeln. Aber wir müssen uns auf den Weg dorthin machen. Wir haben bereits viel zu lange gewartet und Zeit verplempert. Die Leidtragenden sind die betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Das Ziel für Sachsen-Anhalt ist, dass endlich inklusive Beschulung die Norm wird. Dass der gemeinsame Unterricht in der Schule die Regel ist. Dass wir ein inklusives Bildungssystem schaffen. Das es weniger statt immer mehr Schüler*innen gibt, die in einer Förderschule unterrichtet werden. Das letztendlich so viel wie möglich Förderschulen in Regelschulen aufgehen. Die Voraussetzungen dafür können mit unserem bündnisgrünen Antrag geschaffen werden.

Deswegen bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag.

Vielen Dank.