REDE

Die Lebensrealität queerer Jugendlicher nicht für verhetzende Scheindebatten missbrauchen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Autonomie oder Selbstbestimmung, Nichtschaden, Wohlergehen oder Fürsorge und Gerechtigkeit – das sind die vier medizinethischen Grundprinzipien, nach denen Ärztinnen weltweit Therapieentscheidungen abwägen, insbesondere dann, wenn Fälle ungewöhnlich, ethisch herausfordernd, besonders sind. Insbesondere dann, wenn Medikamente off label genutzt werden sollen. Insbesondere, wenn ein Therapieerfolg nicht so einfach aus dem Lehrbuch zu entwickeln ist. Insbesondere am Beginn oder am Ende des Lebens oder in besonders vulnerablen Lebensphasen.

Immer dann wägen Ärztinnen und Behandlerinnenteams ab. Mit ihrer Expertise, ihrer Erfahrung, ihrem wissenschaftlichen Hintergrund. Autonomie der Patientin, Nichtschaden, Wohlergehen und Gerechtigkeit. Diese vier Prinzipien werden gefüllt und gewogen, um zu schwierigen Entscheidungen zu finden. Das Bauchgefühl oder die Meinung von „den Leuten“, auch dann, wenn es sich dabei um Landtagsabgeordnete handelt, ist zum Glück kein Abwägungskriterium für medizinische Entscheidungen. Sollte es auch nicht. Nicht nur ihr Antrag, auch die Geschichte zeigt uns, was passiert, wenn sich populistisch aufgeladene Moral in Medizinethik einmischt. Und mehr wäre zu ihrem Antrag eigentlich nicht zu sagen.

Einige wenige inhaltliche Worte dennoch: Was sie in ihrem Antrag als scheinbar modisch assoziierten Trans-Hype benennen,  beschreiben seriöse Wissenschaftlerinnen weitaus differenzierter. Zwar ist in den letzten Jahren objektiv ein Anstieg der Zahl der Jugendlichen zu beobachten, die mit einer sogenannten “Geschlechtsinkongruenz im Jugend- und Erwachsenenalter (ICD11) Hilfe, Beratung und Unterstützung suchen, dieses wird aber vor allem einer sich verändernden gesellschaftlichen Umgebung zugeschrieben. Die durch die Sichtbarkeit von queeren Lebensrealitäten überhaupt erst Worte gibt, für das, was mit einem selbst anders ist. Die durch gewachsene Toleranz überhaupt erst die Möglichkeit gibt, sich zu outen und die durch neue Behandlungsansätze überhaupt erst Wege aufzeigt, das eigene Geschlecht zu leben, wenn es sich im eigenen Körper falsch anfühlt. Ähnliche Phänomene waren schon im Bereich der Homosexualität beschrieben worden. Der Begriff der sozialen Ansteckung war schon bei der Zunahme von homosexuellen Outings keine passende Beschreibung und ist ein das hier beschriebene Feld schlichtweg nicht anwendbar. Das ist lange widerlegt.

Das von Ihnen angeführte sogenannte “ROGD”-Syndrom ist kein anerkanntes medizinisches Phänomen. Die Beschreibung dieses Syndroms ist als mindestens hoch umstritten zu betrachten und keinesfalls als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis. 

Keinesfalls darf und sollte ein solch umstrittener Ansatz Anlass sein, sich politisch in die Behandlung von Minderjährigen einzumischen. 

Sie halten uns hier im Landtag Stöckchen hin, weil sie auf die Entfesselung eines Kulturkampfs hoffen. Aber, meine Herren: Ihre Stöckchen sind zu kurz. Vielen Dank