Sehr geehrte Damen und Herren,
die Legendenbildung zum Sommer 2015 wuchert und wuchert. Umdeutungen, rechtsextreme Narrative, schlicht Lügen und Fehlinformationen kursieren, um das damalige Geschehen umzudeuten. Dieser Sommer der Migration, der Sommer 2015 war vor allem dies: er war kraftvoller Ausdruck einer humanen Migrationspolitik, eine Höchstleitung im Bereich des Krisenmanagements und eine Sternstunde des ehrenamtlichen Engagements. Deutschland kann mit Stolz darauf zurückblicken, vor allem alle unsere Bürger:innen. Wir haben uns als starkes Land erwiesen mit festen Werten, großer Hilfsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein.
Aber all das wollen Sie vergessen machen mit Schauergeschichten von Kontrollverlust, Überforderung und Islamisierungsängsten.
Ich halte es da grundsätzlich mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen, dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“ – Genau so.
Die Fratze der Inhumanität hat uns ja heute schon Herr Siegmund zur Genüge vor Augen geführt. Gruselig. Da klingt doch ganz die von seinem Parteifreund Höcke geforderte faschistoide „wohltemperierte Grausamkeit“ durch.
Wider die Legendenbildung: Die damalige Bundesregierung hat sich angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien und den daraus folgenden Migrationsbewegungen dazu entschlossen, unsere Grenzen nicht zu schließen. Also unsere Grenzen nicht mit Waffengewalt gegen flüchtende Frauen, Männer und Kinder zu verteidigen. Was für eine unmenschliche Vorstellung, man hätte man unmittelbaren Zwang und gewaltsame push-backs eingesetzt angesichts tausender Menschen, die einzig Schutz und Obdach suchen.
Wir saßen nie in einer mauerbewehrten Festung und dann hat Kanzlerin Merkel einfach die Zugbrücke runtergelassen und Belagerern kampflos Zutritt gewährt, wie die extreme Rechte suggerieren will. Nein, wir haben an offenen Grenzen festgehalten, gerade in dieser Ausnahmesituation.
Wider die Legendenbildung: Unsere gesellschaftliche Ordnung hat Bestand. Damals wie heute. Ja, manches war schwierig, aber das Schreckgespenst „Kontrollverlust“ ist ein Schauermärchen – und ganz ehrlich, wenn ein menschenverachtender Diktator, der weder vor massenhafter Folter noch Massenmord und Giftgaseinsatz zurückschreckt, Krieg gegen die Bevölkerung führt und dabei unterstützt wird durch Luftschläge des Putinregimes, ja dann kann nicht alles nach deutscher Bürokratie ablaufen. Deutschland hat in dieser Zeit unbürokratisch geholfen. Natürlich brachte das Verwaltungsabläufe und die Handelnden vor Ort an ihre Belastungsgrenzen und bisweilen darüber hinaus. Aber durch den großen Einsatz der Kommunen und ihrer Beschäftigten und durch tausendfaches Engagement von Freiwilligen ist diese Phase beherrschbar geblieben. Weder brach Chaos aus, noch Anarchie.
In einem Land mit über 80 Millionen Einwoher*innen bricht eben nicht alles zusammen, wenn 1 Millionen Menschen hinzu kommen. In einer mit 80 Personen gut gefüllten Kneipe geht ja auch nicht gleich das Bier aus, werden die Stühle knapp und sind plötzlich alle Tische überbelegt, wenn eine weitere Person den Raum betritt. Das ist die Relation der Fluchtbewegung 2015 und 2016.
Dazu ein Schlaglicht: Bereits Mitte 2015 lebten in Sachsen-Anhalt etwa zwei Drittel der Geflüchteten im Land in Wohnungen, die von Kommunen oder den Flüchtlingen selbst angemietet wurden, und nur ein Drittel in Gemeinschaftsunterkünften. Keine belegten Sporthallen oder gar Zeltcamps. Trotz aller Herausforderungen wurde vieles im Land gemeistert.
Es gab weder eine Grenzöffnung, noch einen Kontrollverlust. Nüchtern betrachtet war die Phase 2015 eine temporäre Ausnahmesituation mit begrenzten Steuerungsdurchgriffen etwa im Fall von Registrierung und Verteilung der Asylsuchenden. Aber durch Krisenmanagement und neue Gesetze – Asylpaket I und II – wurde dies schrittweise überwunden. Wer hier Kontrollverlust ventiliert, verschweigt die Arbeit der Vielen, die Ordnung geschaffen haben.
Wie sieht es aktuell aus? Ende 2024 lebten über 29.400 Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit in Sachsen-Anhalt. Hinzu kommen bereits tausende eingebürgerte Menschen aus Syrien. Zwischen 2015 und 2024 erhielten über 4.000 Menschen aus Syrien in Sachsen-Anhalt die deutsche Staatsbürgerschaft. Migration heißt eben nicht nur temporär ankommen, sondern dauerhaft bleiben. So leid es mir auch für ihr Volksphantasma tut verehrte AfD: Viele Migrantinnen sind gekommen, um zu bleiben. Zum Glück. Ja Migration verändert Gesellschaften. Das war schon immer so und wird auch so bleiben. Migration ist nicht ein Sonderfall. Eine Ausnahme. Zeigen Sie mir eine vermeintlich deutsche Familie, die nicht zumindest zwei drei Generationen zurück eine Einwanderungsgeschichte hat. Klar wird es auch geben. Aber eher die Ausnahme, denn die Regel. Migration prägte und prägt Gesellschaften. Vormals Fremde werden Mitbürger*innen. Vormals Fremdes wird vertraut und Teil einer neuen Normalität. So unsere arabischen Zahlen. Der englische Fußball. Die südamerikanische Kartoffel. Der Döner. Kulturen sind immer ein Amalgam verschiedenster Einflüsse. Das Hybride ist das Normale. Eindeutigkeit immer ein Hirngespinst
Doch kommen wir nun zu ein paar Hardfacts: Die Erwerbsbeteiligung der seit 2015 Geflüchteten ist stark gestiegen – knapp 64% der 2015 eingereisten Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter hatten 2023 einen Job, im Vergleich zu ca. 70% in der Gesamtbevölkerung. In Sachsen-Anhalt waren 2023 etwa 130 Ärztinnen und Ärzte aus Syrien registriert – das entspricht 1,3% aller berufstätigen Ärzte hierzulande. Die Logistikbrachen, das produzierende Gewerbe, Gastronomie aber auch die Pflege- und Gesundheitsberufe. Überall würden noch größere Lücken klaffen, wenn nicht Menschen aus Syrien und inzwischen auch der Ukraine hier leben und arbeiten würden.
Postmigrantisch gedacht, war 2015 kein „Betriebsunfall“, sondern ein Katalysator: Deutschland – und Sachsen-Anhalt – haben dauerhafte Institutionen, Regeln und Routinen für eine vielfältige Gesellschaft aufgebaut. Die Erträge im Sinne Arbeitsmarkt, Demografie, bürgerschaftliche Energie sind real, die Aushandlungen bleiben – und wollen politisch gestaltet werden, und ganz sicher nicht nostalgisch negiert
Meine Bilanz ihres „Kontrollverlusts“ – weniger Leerstand, mehr Pflegekräfte, mehr Zukunft. Ihrem vermeintlichen Chaos entsprangen: Aktenzeichen, Ansprechpartner und Arbeitsverträge.
Statt hier weiter Zeter und Mordio zu schreien Herr Siegmund weinen sie doch bitte zu Hause leise um ihr ach so schönes germanisches Urvolk.
Danke.