Rede

Gemeinschaftsdienst statt Wehrpflicht: Verantwortung neu denken

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Sehr geehrte Damen und Herren,

in einem Punkt sind wir Grünen uns absolut einig: nein, wir wollen keine schlichte Wiedereinführung der Wehrpflicht. 

Aber der vorliegende Antrag macht es sich zu einfach, denn er ignoriert die Wirklichkeit. So einfach ist es halt am Ende nicht. Die friedens- und sicherheitspolitische Lage in Europa und Deutschland und der Welt ist seit dem russischen Angriffskrieg eine andere. Dieser Angriff Russlands auf einen souveränen europäischen Staat war und ist eine Zäsur. Die Fragilität transatlantischer Bündnisse dank eines eratisch agierenden US-Präsidenten eine weitere. Und diese Realität muss doch Widerhall finden in Anträge, wie den ihren! Diese Realität wirft ganz grundsätzliche Fragen auf. Wie gehen wir als Gesellschaft in Zukunft mit dem Verhältnis von individueller Freiheit zur Lebensgestaltung und gesellschaftlicher Verpflichtung um. Wie beantworten wir die Frage, was unsere Gemeinschaft zu einer Verantwortungs- und Schicksalsgemeinschaft macht und was folgt daraus an Erwartungen an den und die Einzelne. 

Wir selbst, ich selbst, habe immer betont, und tue das noch, dass in der Freiwilligkeit ein besonderer Wert liegt. Dass das sich aus freien Stücken und eigener Entscheidung engagieren im Sozialen, im Denkmal- oder Umweltschutz, die Freiwilligendienste erst zu dem gesellschaftlichen Schatz machen, der es ist. Aber die Zahlen gehen zurück und spätestens wenn wir auf den Zivil- und Katastrophenschutz schauen wird klar: wir brauchen mehr Menschen, die sich für die Gesellschaft engagieren. Zur Realität gehört auch, dass unsere Welt unfriedlicher geworden ist, und dass sich das auch direkt vor unserer Haustür abspielt. Und dass unsere Bundeswehr dem im Moment nicht gewachsen ist. Wir alle sind es nicht. Ich möchte das Wort von der Kriegstüchtigkeit nicht führen, aber verteidigungsfähig müssen wir sein. Das ist die Realität. Und dafür braucht die Bundeswehr auch mehr Soldaten. Und dennoch: Es ist gut, dass die Zeiten in Deutschland vorbei sind, in denen Menschen verpflichtet waren, Soldaten zu sein. Nein, eine Rückkehr zur Wehrpflicht wollen wir nicht, aber das als Antwort ist zu wenig, weil es nicht löst, was gerade gelöst werden muss.

Für uns Grüne ist klar: es braucht eine neue Verbindlichkeit für den gesellschaftlichen Einsatz, eine neue klare Ansprache an alle Einwohnerinnen und Einwohner unseres Landes. Wir wollen einen Gemeinschaftsdienst für Alle. Als Angebot. Als Möglichkeit. Als klare Erwartung. Mit Einsatzmöglichkeiten bei der Bundeswehr, im Zivilschutz, im sozialen, im ökologischen Bereich oder im Denkmalschutz. Für alle Altersgruppen. Unabhängig vom Geschlecht. Wir wollen nicht erneut Feldjäger in die Spur schicken, um Verweigerern habhaft zu werden. Sondern klar adressieren an jeden und jede Einzelne: was bist du bereit zu leisten? Was kannst du leisten? Was möchtest du leisten? Für diese Gesellschaft, für diese mit all ihren Unwuchten und Makeln doch bewunderungswürdige Friedens- und Freiheitsordnung in Deutschland und Europa. 

Kein Zwangsdienst, aber eine eingeforderte persönliche Stellungnahme, eine persönliche Erklärung, eine ernsthafte Selbstbefragung. Und dann natürlich attraktive Möglichkeiten aktiv zu werden. Die Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten ist da meiner Auffassung nach groß. Grenzen setzt natürlich die praktische Umsetzung, die administrative Begleitung, die konkrete Ausgestaltung eines sozialen Gemeinschaftsdienstes. Da sind die Fragen derart grundsätzlicher Natur, dass es Zeit brauchen wird, die Antworten zu entwickeln. Ein Nein zur alten klassischen Wehrpflicht geht schnell. Ein Ja zu mehr FSJ und BFD geht auch schnell. Aber damit bleiben wir, wie ich finde, unterkomplex. Damit stellen wir uns nicht der Realität und gehen wir schwierigen Fragen aus dem Weg. Das ist einfacher, als die Ambivalenz auszuhalten, dass die Welt nun gerade wirklich nicht so ist, wie wir sie uns wünschen. Der alte Spruch “Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin” funktioniert eben leider nicht, wenn da einer trotzdem auf das Schlachtfeld marschiert und rumballert. Außer man hält die Augen ganz fest zu. Das ist als Grüne nicht unser Anspruch. Wir würden diesen Antrag sehr gern im Ausschuss (welchem?) beraten. Denn die Frage, wie wir gesellschaftliche Verantwortungsübernahme in einer sich rasant ändernden Zeit organisieren, hat mehr verdient als schnelle Antworten von gestern.

Danke.